Eine Ulk-Kurtisane dreht auf

Eine Ulk-Kurtisane dreht auf

Für die Liebe und ein nachhaltiges Miteinander in einer immer verrückter und undurchsichtiger werdenden Welt – dafür steht die Kabarettistin Nessi Tausendschön. Am Freitagabend hat sie zum wiederholten Male dem Publikum in der Herborner „KulturScheune“ ihre Aufwartung gemacht: Mit ihrem Programm „30 Jahre Zenit“ begab sie sich parlierend und singend auf die Spur des Zeitgeists.

Nach Corona samt Lockdown braucht auch eine ansonsten stets mächtig unter Dampf stehende Kulturschaffende wie sie eine Aufwärmphase, um sich beim Publikum der Wirksamkeit ihres „mondän kultivierten Schabrackentums“ zu vergewissern. „Die Kultur hat einige Zähne gelassen“, verkündet sie mit dem Versprechen, disee Zahnreihen wieder zu schließen.

Älter ist sie geworden, tiefgründig, feinsinnig und bissig ist sie geblieben, um in postfaktischen Zeiten zu wissen, wo man steht. Nachdem sie Querdenkern, Faschos, Populisten und Putin kurz und knapp die Leviten gelesen hatte, zog Tausendschön mit dem Lied „Die wunderbare Zeit der Amnesie“ Bilanz über die taube, trübe Corona-Zeit, die ihr aber die Gewissheit gab, das weniger durchaus mehr sein kann.

Nicht verändert hat sich ihre Gewissheit, dass sie einen Schuss hat. Nun ja, es knallt an allen Ecken und Enden: So wird es den Kindern wohl mal nicht besser ergehen, auch wenn ihre Helikoptereltern daran glauben. Und auch in vielen Ehen ist nicht alles Gold, was glänzt: „Kommt ein Mann betrunken nach Hause. Seine Frau stellt ihn. Er fragt, was machst du denn für ein Gesicht. Sie antwortet, wenn ich Gesichter machen würde, hättest du schon längst ein anderes Gesicht.“ Mit swingendem Gitarrenklang verstieg sich Tausendschön in die Sehnsucht nach der Sehnsucht und der Angst, irgendwann im Überfluss zu ertrinken. Mit einem Überfluss an Liedern, melancholischer „Zerknirschungslyrik“, wie sie es nennt, und bissigen Politik-Kommentaren brachte sie sich in Wallung. Mit singender Säge demonstrierte sie ihre Lust am Singen und Musizieren, die sie mit verblüffenden Tanzeinlagen, überspitzt lasziven Gesten und einem verwegenen Hüftschwung garnierte.

Nessi Tausendschön bricht Grenzen des guten Geschmacks auf und stürzt sich als lustvolle Sportreporterin in die „Europameisterschaft im Kunstvögeln“, die sie mit spitzem Zungenschlag kommentierte. Mit William McKenzie zelebriert sie die Musik der Jazz- und Blues-Legende Rosetta Tharpe („Sister Rosetta“) und bekennt sich zur wahren und aufrichtigen Liebe.

Mit engelsgleicher Stimme sang sie: „Ich liebe nur dich. Sei einfach bei mir und nicht in der Ferne.“ Dennoch zeigt sie den Männern auch schon mal ihre Grenzen auf, besonders beim Autofahren und ihre Leidensfähigkeit im Stau, als Gradmesser für ihre Geduld und Rücksichtnahme.

William Mackenzie, der einen gewöhnlichen Spaten zu einer Slide-Gitarre umfunktioniert hat, versteht sich auch bestens auf Zaubertricks und Jonglage, während Tausendschön nicht nur Öffentliches, sondern auch Intimes preisgibt. In einem Poem zum Mitsingen bekannte sie, dass sie als Kind ein Junge sein wollte: „Denn die Gerechtigkeit ist für die Jungen da.“

Nun, seit 33 Jahren versteht sich die Kabarettistin so, dass sie auch als Frau die Kleinkunstbühnen mit klugen, tiefgründigen und effektvollen Inszenierungen mannhaft bespielen kann. In der „KulturScheune“ hat sie am Ende ihr Publikum davon überzeugt, dass sie sich mit Lust am Schwadronieren, laszivem Gestikulieren und vollmundigem Gesang das Recht herausnehmen kann, auch in diesen ernsten Zeiten auf der Bühne den Kasper zu geben.

 

 

Gert Fabritius

Helmut Blecher