Plädoyer für den „Erwinismus“

Plädoyer für den „Erwinismus“

Jochen Malmsheimer mag keine „verwarzten“ Montage, die ihm nur die Lust auf den Rest der Woche vermiesen. Der Poet unter den Kabarettisten, der Sprache zu Musik werden lässt, begab sich in der Herborner Kulturscheune (KuSch) auf eine neuerliche Reise durch sein Leben, das er mit Bekenntnissen und Erkenntnissen zum Radfahren, zum Fundamentalirrtum Radfahren und zum Wesen der Kunst und ihrer Bedeutung für den „Erwinismus“ seinem Publikum in Form einer Tagebuch-Lesung darbrachte.

Unter dem Titel „Statt wesentlich die Welt bewegt, hab’ ich wohl nur das Meer gepflügt – ein Rigorosum sondershausen“ steht das neue Programm des gerne außer Rand und Band geratenden Wort-Berserkers, der die großen und kleine Dinge des Weltgeschehens seinem unerbittlichen Strafgericht unterzieht. Eingedenk der Tatsache, dass der Körper nur dazu da ist, damit der Geist etwas zu tun hat, fällt die Malsmheimersche Bilanz verheerend aus. Die Künstliche Intelligenz ist für ihn kein Segen, sondern wie Hinterlassenschaften, aus denen, auch kräftig umgerührt, kein Marzipan wird. Und die Essgewohnheiten der Chinesen („Es gibt nichts, was man mit Chili-Süßsauer genießbar machen kann“) finden bei ihm ebenso keine Gnade wie die Erkenntnis, dass einen der Umgang mit einem Taschenrechner noch nicht zu IT-Spezialisten macht: „Alles darüber hinaus ist dann Raumfahrt.“

Die Themen Seuchen und die Notwendigkeit des Impfens sind dem Meister des Absonderlichen auch ein paar Bemerkungen wert: „Die Lust sich impfen zu lassen könnte erheblich gesteigert werden, wen man sie in Form einer Pizza verabreicht.“ Und immer wieder sind es die Montage, die sein Gemüt erregen, ihn in einen Zustand des allgemeinen Vergessens ankommen lassen. Mit den Augen rollend, mit einem letzten Zucken die Stimme erhebend, bekennt er saftlos und kraftlos zu sein. Der Sprachmüll vieler junger Menschen, der ihn im Alltag begegnet, lasse ihn erkennen, dass er alt geworden sei.

Für den Spezialisten, der Buchstaben und Satzzeichen mit elementarer Wucht aufeinander treffen lässt, ist Kunst nicht nur eine Frage des Könnens und des Wo: „Wenn sich einer mit dem Hammer auf dem Daumen klopft, wird das erst zur Kunst erhoben, wenn das in einer Kunstausstellung oder einem Museum geschieht.“

Die Gedankengänge Malmsheimers münden in wilde Fantasien über Simon Bolivar, der ja, wenn man dem Internet glauben möchte, und das würden ja inzwischen viel zu viele tun, lange mit Jean Paul Sartre zusammen lebte. Letztlich wisse nur der Wind, was wirklich geschehe. Last but not least bricht der mit sarkastischer Bosheit und überschäumender Komik daherkommende Kabarettist über die Geschichte des gänzlich verdrängten „Erwinismus“. So hieß der Vater von Max Planck Erwin. Und wo sind Erwin Goethe, Erwin Mozart oder Erwin Pavarotti abgeblieben?

Jochen Malmsheimer bringt die Worte zum Reden. Dreht am Rad der Geschichte und erweist sich dabei als Fürsprecher für eine Kunst, die – auch aus der zweiten Reihe kommend – es verdient, gewürdigt zu werden.

 

 

Gert Fabritius

Helmut Blecher